Überraschend ist am 22. Juni 2020 Rolf Kießling im Alter von 78 Jahren zuhause in Bonstetten (Landkreis Augsburg) gestorben. Seine nie versiegende Leidenschaft als Historiker, seine beeindruckende Schaffenskraft, seine unverstellte Zugewandtheit im persönlichen Umgang und seine interessierte, optimistische Offenheit für das, was ihn umgab, ließen die meisten Menschen, die ihn kannten, vergessen: Rolf Kießling kämpfte seit vielen Jahren gegen eine heimtückische Krebserkrankung. Den Tod immer vor Augen stand er doch – vielleicht gerade deshalb – mitten im Leben.
Rolf Kießling wurde am 25. Juli 1941 in Augsburg als Sohn eines Polizeibeamten geboren und in der evangelisch-lutherischen Kirche St. Jakob getauft. In seiner Heimatstadt besuchte er das Holbein-Gymnasium und studierte anschließend die Fächer Deutsch, Geschichte und Geographie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1966 legte er das Erste, 1970 das Zweite Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien ab. Für über 20 Jahre – bis 1992 – wirkte er als Studienrat bzw. zuletzt Studiendirektor am Bayernkolleg in Augsburg, eine Aufgabe, die ebenso seinem Naturell entsprach wie sie ihn geprägt und ihm Distanz zu akademischer Selbstbespiegelung vermittelt hat.
Noch vor Abschluß des Referendariats erfolgte 1969 die Promotion in München bei Karl Bosl mit einer Arbeit über „Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Spätmittelalter“, auch heute, ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen, das wichtigste Referenzwerk über den vorreformatorischen „Kommunalismus“ in der Reichsstadt am Lech – ein Begriff, den sein Münchner Studienkollege Peter Blickle einige Jahre später formulieren sollte. Stadtgeschichte, dekliniert nicht nur in die Aspekte von „Gemeinde“, „Kirche“, „Reformation“, blieb auch in den folgenden Jahrzehnten ein Schwerpunkt der Interessen von Rolf Kießling. In den letzten Monaten hatte er ein Vorhaben aufgegriffen, das ihn wieder zurückführen sollte zu seinen Promotionsstudien: Noch unmittelbar vor seinem Tod schrieb er an einem Buch über den Augsburger Kaufmann Peter Egen / Peter von Argon (um 1412-1452), einer faszinierenden Schlüsselfigur der reichsstädtischen Geschichte. Die weit gediehene Arbeit konnte Rolf Kießling nicht mehr abschließen.
Mit den Studien zu seinem 1985 abgeschlossenen Habilitationsvorhaben kam als weiteres Leitmotiv die Wirtschaftsgeschichte hinzu. Vielfach findet die Disziplin erst in jüngster Zeit Anschluß an die von Rolf Kießling betriebenen Forschungen. Die 1989 im Druck erschienene Habilitationsschrift „Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik, Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefüge in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert“, verarbeitete aber noch weitere Motive, die in Rolf Kießlings Schaffen reiche Frucht hervorbringen sollten. Zentral war seine Erkenntnis und Forderung, die Geschichte der Städte im Kontext des sie umgebenden Landes zu behandeln und umgekehrt. Gerade das östliche – heute bayerische – Oberschwaben beleuchtete er in vielfältigen Perspektiven als historische Landschaft: in seiner Wirtschaftsstruktur mit Orten unterschiedlich ausgeformter Zentralität, als Bildungslandschaft oder als stark von den hier lebenden jüdischen Gemeinden geprägte Region und nicht zuletzt als „kleingekammerte“ Landschaft, deren polyterritoriale Vielfalt ihm nicht unbesehen ein defizitärer „schwäbischer Flickenteppich“ war, sondern Labor für die Entwicklung von Innovationen und für das fruchtbare Austarieren von Gegensätzen.
Stadt und Land, das waren Rolf Kießling auch biographische Erfahrungen (seine Großeltern stammten aus einem evangelischen Dorf im „Ulmer Winkel“, zu seinen Kindheitserinnerungen zählten Aufenthalte und Arbeiten auf dem Bauernhof). Die historische Bikonfessionalität seiner Vaterstadt ebenso wie die über Jahrhunderte auch von gedeihlicher Koexistenz gekennzeichnete Geschichte der Juden in Schwaben waren ihm Erkenntnis: Gegenseitiges Verstehen kann erwachsen aus Nachbarschaft, im alltäglichen Handeln und Wandeln miteinander. Auch als Mensch empfand Rolf Kießling unterschiedliche Prägungen und Positionen als Bereicherung, freute sich an Austausch, Diskussion und nicht zuletzt am Widerspruch seiner Schüler. Die intellektuelle Freiheit jedes einzelnen war ihm hohes Gut, ein liberaler, republikanischer Geist, gepaart mit unbestechlich hohen Ansprüchen an wissenschaftliche Arbeit, bildete die Atmosphäre in den Seminaren und Kolloquien von Rolf Kießling. Der persönliche Angriff war ihm zuwider, zu sachlicher Deutlichkeit im Urteil aber hielt er sich verpflichtet.
Ein wesentlicher didaktischer Bestandteil seiner akademischen Lehre waren historische Exkursionen. Sie waren für alle Teilnehmer eine auch sportliche Herausforderung. Wenn Rolf Kießling von der historischen Landschaft gepackt war, die sich ihm und seinen Studenten auftat, kannte er keine Müdigkeit, kein Nachlassen der Konzentration. Dann kam es nicht selten vor, daß der Zeitplan aus den Fugen geriet und etwa das letzte Referat im mitternächtlichen Schein einer Straßenlaterne im Südtiroler Bruneck abgehalten werden mußte.
Rolf Kießlings langjährige Erfahrung als Geschichtslehrer machte ihn in den Jahren 1992 bis 1994 zu einem idealen Vertreter für die Theorie und Didaktik der Geschichte an der Katholischen Universität Eichstätt. 1994 erhielt er schließlich einen Ruf auf den Lehrstuhl für Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte an die Universität Augsburg, den er bis 2007 innehatte. Bald nach seiner Berufung übernahm er auch Verantwortung in zahlreichen historischen Vereinen und Kommissionen. Er war Mitglied der Kommission für bayerische Landesgeschichte seit 1997, übernahm 2000 den Vorsitz der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft (bis 2016), war unter anderem Beirat des Jüdischen Kulturmuseums in Augsburg und Vorstandsmitglied der Dr.-Eugen-Liedl-Stiftung. Dem Memminger Forum für schwäbische Regionalgeschichte e.V. war er 1987, im Jahr nach der Gründung, beigetreten, 1996 bis 2011 wirkte er als dessen Vorsitzender, initiierte und leitete viele Tagungen, aus denen mehrere Bände der regionalgeschichtlichen Reihe „Forum Suevicum“ hervorgingen. Die Aufgabe des Herausgebers für diese und weitere Reihen sowie zahlreiche Sammelbände nahm Rolf Kießling stets überaus ernst. Er las jeden Text aufs genaueste – die Jahre als Deutschlehrer waren ihm wohl in Fleisch und Blut übergegangen –, erkannte immer die inhaltlich kritischen Punkte und formulierte seine Rückmeldungen an die Autoren in der ihm jederzeit eigenen verbindlichen Weise.
Auch der Gesellschaft Oberschwaben für Geschichte und Kultur trat Rolf Kießling wenige Monate nach deren im März 1996 in Weingarten erfolgten Gründung bei und engagierte sich bis zu seinem Ausscheiden 2012 als Beirat im Vorstand, stand der Gesellschaft aber auch in den Jahren danach zur Verfügung. Denn sein Rat wurde gesucht und seine Meinung hatte Gewicht. Zuletzt organisierte Rolf Kießling gemeinsam mit der Gesellschaft Oberschwaben eine dreiteilige Konferenz zur Wirtschaftsgeschichte Oberschwabens. Die zweite Tagung innerhalb dieser Sequenz fand im Juli 2019 in Bad Waldsee statt. Bei der Verleihung des ihm 2005 in Memmingen übergebenen Friedrich Schiedel-Wissenschaftspreises bezeichnete ihn der Stiftungsratsvorsitzende und Ravensburger Landrat Dr. Guntram Blaser, als „unseren Mann im Osten“. Denn Rolf Kießling betrachtete Ostschwaben als Geschichtslandschaft immer im räumlich weiten Kontext, dabei auch als historischen Teil Oberschwabens. Generell hielt er – aus der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Perspektive nicht verwunderlich – wenig von einer etatistisch verengenden und verengten Landesgeschichte. Einem anpassungsfähigen regionalgeschichtlichen Zugang verdankt sich die Fülle inspirierender Fragestellungen, die er an seine Untersuchungsräume herantrug.
Die These um der Steilheit willen war nicht sein Ehrgeiz, sein Argumentieren war immer differenziert, schwarz-weiß zu denken lag ihm fern. Rolf Kießling, der Lehrer an Gymnasium und Universität, konnte ebenso landeshistorische Mikrogeschichte betreiben wie die großen Linien des Überblicks zeichnen: die „Kleine Geschichte Schwabens“ richtete sich an das historisch interessierte Laienpublikum, das ihm immer am Herzen lag; die zuletzt, 2019, fertiggestellte umfangreiche „Jüdische Geschichte in Bayern“ ist die erste vom Hochmittelalter bis in die Gegenwart reichende Gesamtdarstellung der jüdischen Geschichte in den Grenzen des heutigen Freistaates überhaupt. Nicht zuletzt seine Fähigkeit, Forschung und Vermittlung zu verbinden und Fachkollegen ebenso wie einem breiten Publikum Auskunft geben zu können, wurde in herausragender Weise gewürdigt, als Rolf Kießling 2016 das Bundesverdienstkreuz am Bande erhielt.
Rolf Kießlings Arbeitspensum war enorm, und doch war er kein Workaholic. Er fand Zeit für seine Familie, seine Freunde, für Kultur, Gespräche und ein kühles Weizen. Er gab jedem das Gefühl, Zeit für ihn zu haben, in wissenschaftlichen Anliegen ebenso wie in privaten. Auch darum wird er denen fehlen, die ihn kennenlernen durften.
Mit Rolf Kießling verlieren wir einen Wissenschaftler, der nicht nur in seinem Fach zu den bedeutendsten unserer Zeit gehörte, sondern der auch menschlich eine Ausnahmeperson darstellte. Requiescat in pace!
Prof. Dr. Dietmar Schiersner, Pädagogische Hochschule Weingarten